Eifmans Ballett „Anna Karenina“ reüssiert auf den Brettern der Volksoper Wien
Wien. Mit frenetischem Applaus und fünf Vorhängen endet eine herausragende Ballettinszenierung. Strahlende Gesichter, Jubel allerorten. Olga Esina, die die Anna tanzte, verabschiedet sich mit Tränen – ihre Partner Kirill Kourlaev (Karenin) und Vladimir Shiskov (Wronski) geben sich durch den Erfolg, den die Petersburger seit der Uraufführung 2005 auf russischem Boden, in Amerika und Europa feiern, abgeklärter. David Levi, der sein Orchester souverän führte, trug mit berührenden, die Handlung tragenden Tschaikowskiklängen viel zum genuin russischen Abend bei. Auch Sinowi Margolins reduziertes Bühnenbild tat dem Stück gut, Slawa Okunews kontrastiv klassische Kostümierung war für das Verstehen hilfreich und lenkte die Aufmerksamkeit auf die in den Bewegungen offenbarten Gefühlszustände des Trios. Weite wallende Kleider in elegischen Anna-Szenen, enge schwarze Leibchen für den befangenen Karenin und eine eigenwillig grüne militärische Eleganz für den Verführer Wronski. Gleb Flischtinskis Beleuchtung war gekonnt leitmotivisch und machte das Fehlen der Sprache Tolstois wiederum wett.
Der Wagnischarakter dieser Ballettaufführung muss betont werden. Was in Russland aufgrund einer literarischen Schulkanonik kein Problem zu werden droht, hätte das Publikum auf ferneren Brettern überfordern können: Wer kennt Lew Tolstois „Anna Karenina“ und muss man diesen psychologisch meisterhaften Frauenroman des 19. Jahrhunderts (der in der „Madame Bovary“ eines Flaubert und Fontanes „Effi Briest“ seine nationalen Pendants findet) zum Verstehen der Bühnenhandlung gelesen haben? Die beruhigende Antwort lautet: nein. Denn Eifman orientiert sich zwar an der Romanhandlung, macht jedoch mehr aus ihr, als eine textnahe theatrale Bühnenadaption ermöglicht hätte. Ihm gelingt eine physisch nahe gehende Studie über die ewigen Topoi menschlicher Existenz mit den Ausdrucksmitteln der Körper- und Musiksprache.
Wagners Anspruch vom Gesamtkunstwerk kann dem textkundigen Zuschauer eingelöst werden – aber selbst der Tolstoi-Novize spürt den Zauber und die Kraft des zugrunde gelegten Werkes – wo die Sprache aufhört, beginnt eine unerhörte Tiefe des Erlebens.
Die unglücklich verheiratete Mutter Anna zieht ihre Lebensfreude weder aus Karenins gesellschaftlichen Lustbarkeiten noch seinen sexuellen, nur schwer ertragbaren Übergriffen am gefängnisstabartigen Gitterbett – nein, hier erschlafft die gewährende Anna auf der Bühne spürbar und ist dem inneren Tod nah. Wronski versteht sie zu beleben, Sehnsucht nach dem viel Versprechenden dominiert nun ihr Streben. In meisterhafter Bewegung – eines Aus-sich-heraus-gehen-Wollens wird dem Zuschauer im Wechsellicht die begehrende Bezogenheit Annas und Wronskis ausgeleuchtet. Tschaikowskis Musik intensiviert sich zusehends, unkontrollierbar übersteigende Töne begleiten die erlösende Zusammenkunft.
Karenins Kampf um Anna beginnt. Der gesellschaftshörige Ehemann leidet an seinen starken Gefühlen für Anna, die er hinter beleuchtungstechnisch sichtbar gewordenen Gittern verstecken muss, wenn er auf sie trifft. Annas Gutsein-Wollen wird merklich, doch ein ihr Weisung gebendes Erschlaffen verunmöglicht eine Ehe um des Kindes willen. Karenin entzieht ihr den geliebten Sohn, sie ist aus dem in ein hartes Quadrat mutierenden Lichtkreis der Familie ausgestoßen, steht nun trauernd bei Schneefall im Unheil kündenden Kreis der Spielzeugeisenbahn. Bis sie vom Zuge erfasst und ihr Leben ausgelöscht wird, vergeht freilich noch eine ungespürte Stunde … Bälle in Italien mit venezianisch Maskierten, Wronski als Portraitmaler einer Muse Anna sind Insignien des nur kurzen Glücks der Entflohenen vor der sehnsuchtsbedingten Rückreise nach Russland, um des Kindes willen.
In Russland beginnt Annas „Häutung“ unter einem der Guillotine ähnlichen Tisch – ihr Wahnsinn beginnt. Und gleichsam ändert sich alles: Anna scheint nun nackt, die Töne des Orchesters ersterben, maschineller Lärm entsteht, hexensabbatähnliche Atmosphäre vieler sich verschlingender tanzender Leiber, bevor der Lichtkegel Rädchen der mit Menschen zu füllenden Maschine zeigt und Bässe und Trompeten dem unmenschlichen Verworfensein wieder reflektierbaren Halt geben. Wronski eilt herbei, birgt Anna in seinen Armen und kann sie doch nicht retten, er steht im Lichtquadrat, schluchzend sein Unvermögen begreifend. Anna steigert sich in neuerliche Verwirrungen, aus dem im Inneren stampfenden Getrieben- und Vertriebensein ergibt sich in übergangsloser schrecklicher Konsequenz der Fall ins Leere – für den Tolstoikenner: vor den Zug. Atemberaubt kann der Zuschauer unter dem Nachhall der peitschenden Maschinenmusik des Wahnsinns mit den Anna Umstehenden den Hut ziehen – Gongschläge signalisieren das unwiderrufliche Scheitern ihrer liebenden Existenz. Von dem das Bühnenvolk und die Volksoper noch am 6., 9. und 13. Mai Kenntnis nehmen kann. Und soll. Bravo, bravo, bravo!
Leo